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Auszug aus:
Christine Wunnicke "Die Nachtigall des Zaren. Das Leben des Kastraten Filippo Balatri":

Audienz beim Großen Khan der Tataren,irgendwo in der Steppe bei Astrachan im Sommer des Jahres 1700

Zitate in Prosa aus: Filippo Balatri, Vita e Viaggi
Zitate in Reimen aus: Filippo Balatri, Frutti del Mondo

   aus dem Italienischen übersetzt von der Autorin




Vier Tage nach der ersten Audienz kommt Ayuki-Khan zu Besuch ins russische Lager, begleitet von sechs Ministern und den obligatorischen zwei Kopfkratzern. Der Gesandte des Zaren, Boris Golizyn, hat die Idee, den Khan vor dem Essen mit ein wenig Musik zu beglücken, und gibt dem Sopranisten ein knappes Kommando. Filippo tut sein Bestes, a cappella, etwas anderes bleibt ihm nicht übrig. Er singt eine Ariette, dabei beobachtet er gespannt, wie Ayuki auf diese musikalische Delikatesse reagiert.

"Als ich zu einem gehaltenen Triller gelangte, der kein Ende nahm, machte der Khan eine lange Zunge (sie reichte fast bis zu einem Ohr), und es sah ganz so aus, als wolle er damit einen seiner Kopfkratzer belecken. Er blickte den Gesandten an und legte beide Hände auf die Brust, dann kamen seine nackten Beine unter dem Kleid hervor, als wolle er baden gehen, dann zogen sie sich wieder zurück, und schließlich begann er, mit den Händen auf die Knie seiner Diener zu klatschen." Mit großem Vergnügen sieht Filippo, dass seine Darbietung auch die Kopfkratzer nicht unbeeindruckt lässt. Sie passen ihre Bewegungen unwillkürlich dem Gesang an - und weil Filippo ein geübter Improvisator ist, hat er bald ein lustiges Spiel entdeckt.

"Unverschämt und bösartig wie ich war, versuchte ich zunächst, die Kratzer mit sanfter Stimme und gezierten Halbtonschritten einzuschläfern, bis ihre Handbewegungen langsam und streichelnd waren. Kaum hatte ich das erreicht, ließ ich ohne Vorwarnung meine Stimme anschwellen und lieferte eine schnelle Passage ab, die zu einer rabiaten Entkräuselung des Khan´schen Haarpinsels führte. Ich sang nun gleich wieder weicher (damit der Khan nicht schreien musste), aber dann präsentierte ich doch noch einen großen Triller, den der Kratzer unwillkürlich mit einer rhythmisch perfekten Zerzausung beantwortete."

Trotz oder gerade wegen Filippos tückischer Tricks ist der Khan hellauf begeistert. Es winkt den Sänger zu sich und beginnt ihn mit Hilfe des Dolmetschers gründlich auszufragen. Ob er Moskowiter sei? Ob ihn die Moskowiter gekauft hätten? Ob das Gegocker im Hals weh tue? Woher ein Mensch soviel Atem nehme? Und dann - und das ist weniger angenehm: Ob er ein Männlein oder ein Weiblein sei.

Ich bin um eine Antwort recht verlegen.
Sag ich "ein Mann"? Die Lüge ist banal.
Sag ich "ein Weib"? Das sag ich nicht, von wegen!
Und ich erröte, sage ich "neutral".

Filippo nimmt sich ein Herz und gibt dem Khan eine ehrliche Auskunft. Geboren sei er als Junge, aber dann habe man den Wundarzt bestellt und dafür gesorgt, dass seine schöne hohe Stimme auf immer erhalten blieb, weshalb er nun nicht mehr wirklich ein Junge sei. Der Khan möchte wissen, ob eine Frau ebenso gut singen könne wie ein Verschnittener. Filippo bejaht das ohne Einschränkung. Der weibliche Sopran stehe dem männlichen in nichts nach und habe zudem den Vorteil, dass man der Dame dafür "nicht einmal eine Fingerspitze weg operieren müsse." Es schmerzt, diese Äußerung zu lesen. Sollte Balatri wirklich der Meinung gewesen sein, die Kastratenstimme entspreche der Stimme einer Frau - eine Einschätzung, die allerdings kaum ein Zeitgenosse teilte -, so fragt man sich, womit er sich getröstet hat, wenn er über seine Verstümmelung nachdachte. Entmannt zu werden, nur um eine Stimme zu bekommen, die der Hälfte der Menschheit von Natur aus zur Verfügung steht? Das wäre eine wahrhaft trübsinnige Idee. Man kann nur hoffen, dass Filippo zu bequem war, Ayuki-Khan die vielfältigen Vorzüge des Kastratensoprans zu erklären; andernfalls müsste man ihn an dieser Stelle wirklich bemitleiden.

Trotz seiner indiskreten Fragen hat Filippo den Khan bald in sein Herz geschlossen. Beim Abendessen erzählt er ihm ungefragt, dass die italienischen Opernlibretti von Khanen nur so wimmelten, er erzählt ihm von der berühmten Faustina Bordoni, von Moskau, von der Toskana und von der Tonkunst im Allgemeinen. Ayuki versteht zwar nicht genau, wovon die Rede ist, aber das singende und plappernde Wunderwesen aus Italien gefällt ihm. Es gefällt ihm viel besser als Boris Golizyn, und es gefällt ihm so gut, dass er ihm eine der größten Aufmerksamkeiten erweist, die das kalmückische Hofzeremoniell erlaubt.

Während der Dolmetsch kommt, mir zu verraten,
was ihm Große Khan hat anvertraut,
zieht dieser aus dem Mund ein Stück vom Braten
und reicht es mir, fürsorglich vorgekaut.

Zu jenem eingesalbten Leckerbissen
bewege ich die Hand, recht unentschlossen,
und nehme ihn aus seiner, die beflissen
versucht, mir einzufüttern, was er schon genossen.

Vielleicht fand unser Khan, der liebenswerte,
der Saft des Bissens sei ein Tonikum,
und gönnt auch mir den Spaß. Doch die Offerte
dreht mir den Magen und die Lungen um.

Filippo fällt schnell eine Ausrede ein: Fleisch ist schlecht für die Stimme. Der Khan beharrt nicht auf seiner zweifelhaften Freundschaftsbekundung, Filippo isst erleichtert eine Portion Reis. Das nächste Ansinnen des Khan, ehrenvoller noch als das erste, erschreckt ihn dann jedoch gründlich. Ayuki legt Filippo eine heiße dicke Hand auf den Scheitel, dann bietet er Boris Golizyn sechs Pferde aus seiner eigenen Zucht als Kaufpreis für den wunderbaren Knaben …


© 2004 by Christine Wunnicke