Friedrich Krauß
Nothschrei eines Magnetisch-Vergifteten
Hörspiel
Radio Bremen 1997 Realisiation/Musik: Stefan Hardt. Mit Wolf Dietrich Sprenger (Friedrich Krauß), Edith Adam (Herzdame), Traugott Buhre (van Esel), Stefan Bissmeier (Janeke), Brigitte Janner (Zwickurschel)
Prix Marulic, 1998
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"Ich
unterschied von Anfang an dreierlei distincte Arten von magnetischem
Gase: 1) das gewöhnlichere, das nur schwach tönend, mehr
wie siedend Wasser sausend einströmt 2) das mit lautem Saus
und Braus, wie wenn man Sand reibt, gar nicht tönend hereindampft
(und) Nerven, Muskeln, Adern gewaltig streift, spannend ausdehnt
u. füllt u. 3) das concentrirteste, heftigste und schärfste
Gas. Dieses zieht hochtönend, hööööö
oder tsiiiii blitzend, wie eine lebendige Flamme herein, die furchtbar
eingreift, aufs Höchste anregt, schnell entzündet und
mir die größte Pein, die schrecklichsten Qualen verursacht."
Artikel
in der Süddeutschen Zeitung vom 15. 12. 2001:
Im
Kopf das wahnsinnige Inferno
"Nothschrei
eines Magnetisch-Vergifteten": Die Geschichte des schizophrenen
Handelsvertreters Friedrich Krauß
Im Jahr 1814 stellt die Firma Thuret in Antwerpen einen neuen Prokuristen
ein: Friedrich Krauß, ein ausgeglichener, freundlicher, strebsamer
junger Mann von 23 Jahren. Schon als Schüler fiel der Sohn
eines Göppinger Weißgerbers durch seine herausragende
Sprachbegabung auf, und als er seine Stelle in Antwerpen antritt,
blickt er bereits auf mehr als fünf Jahre Berufserfahrung zurück,
als Korrespondent für Deutsch und Französisch, zunächst
in Straßburg, später in Paris. Friedrich freut sich auf
die Niederlande; er reist gerne und die Anstellung bei Thuret entspricht
seinen Vorstellungen. Ehrgeiz, aber keine Flausen, eine schöne
Karriere, dann Frau und Kinder ein Leben, friedvoll und behaglich
wie eine Biedermeiervignette.
In Antwerpen fühlt er sich jedoch nicht wohl. Die Stadt ist
ihm unsympathisch, dann unheimlich. Er kann nicht schlafen. Er versteht
nicht, was ihm fehlt. Die "wässerige Gemeinheit"
von Antwerpen und die merkwürdigen Mienen der Angestellten
von Thuret setzen ihm so zu, dass er am liebsten geflohen wäre.
Noch weiß er nicht, dass es keine Fluchtwege für ihn
gibt. Er hat Angst. Eines Nachts beginnt dann die Folter, die ihn
54 Jahre lang, bis zu seinem Tod, begleiten wird. Die unentrinnbare
Hölle des Friedrich Krauß.
"Ich fühlte mich unruhig; und bald kam mir eine Hitzplatte
zum linken Ohr herein, von der Breite der Handpalme, rund und platt
wie ein Kronenthaler. Diese Dunstmasse, von der ich mir keinen Begriff
machen konnte, spazirte ungenirt bis auf die Hüfte und promovirte
sich dann dahin, wo die Schaam zu sagen verbietet, und überließ
sich den cynischsten Unzüchtigkeiten, wie wenn sie meine edlen
Theile knotschte und drehte, und dazu murmelte 'ah vous êtes
un bon mâle!' Ganz außer mir durch diese Infamie kam
mir die Idee, ich könnte wohl elektrisirt sein; ich mochte
jedoch immerhin mit dem Stocke unter dem Bette hin- und herschlagen,
es war kein Verbindungsdraht da. Und so suchte man ungestört
den erwähnten Hitzfleck vom Unterleib gegen meinen Nabel heraufzudrücken,
von wo aus die Bestie sich lange bemühte, fühlens wie
mit dem Finger aufwärts nach dem Herz zu schieben. Ich wehrte
mich dagegen und sie murmelte, ich halte das Herz zu hoch, sie könne
nicht beikommen ... und damit begann ein Wachbleiben von 40 mal
24 Stunden."
Friedrich Krauß hat die Geschichte seiner Qualen niedergeschrieben
und 1852 im Selbstverlag publiziert. Er nennt sie "Nothschrei
eines Magnetisch-Vergifteten". Das zweibändige Werk umfasst
1003 Seiten, 1867 erscheint ein dritter Band, die "Nothgedrungene
Fortsetzung meines Nothschreis", weitere 380 Seiten lang. Nur
drei Exemplare von Krauß´ Veröffentlichungen sind
erhalten geblieben. Sie liegen in den Universitätsbibliotheken
von Tübingen und Heidelberg sowie in der Bibliothek der Society
for Psychical Research in London. 1967 wurde ein kleiner Auszug
neu veröffentlicht überreicht von Bayer Leverkusen
als Werbegeschenk für Nervenärzte. Friedrich Krauß'
"Nothschrei" ist nicht nur die beeindruckende Selbstschilderungen
einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie die Diagnose
fällt einem heutigen Psychiater nicht schwer; er ist gleichzeitig
ein sprachgewaltiges Meisterwerk von einer gespenstischen und fast
unerträglich suggestiven Poesie.
Die sprechende "Hitzplatte" ist nur das Vorspiel einer
endlosen Tortur. Es gibt keine Wörter für seine Martern,
Krauß muss sie neu erfinden: "Herzdampf", "Lungenhetzen",
"Schwitzrötheln", "Gailglotzen", "Magenschinden",
"Zahnglühen", "Afterbrand", "Feinfeuerung
des Kopfes". Gedanken werden eingeblasen oder abgesaugt, Worte,
Blicke, Empfindungen, Erinnerungen manipuliert, entwürdigt,
"in den Dreck getreten durch die Seelenwürmer." Und
ständig reden unsichtbare Leute auf ihn ein, schimpfen, spotten,
frohlocken über seine Schmerzen. Nach den "schrecklichen
40 Nächten", die auf die erste Heimsuchung in Antwerpen
folgen, hat Krauß in dem Stimmengewirr seines Wahns vier Personen
identifiziert: ein altes Weib, das er "Zwickurschel" nennt,
seine Kollegen Janeke und van Asten sowie dessen Tochter. Warum
quälen sie ihn? Grundlos, zu ihrem perversen Vergnügen.
Ihre Technik? Der tierische Magnetismus. Krauß hat in der
Zeitung davon gelesen eine Methode zur Beeinflussung von
Körper und Geist mittels "electromagnetischem Fluidum",
erfunden von Doktor Mesmer. Es ist eine gewisse Erleichterung, das
Unheil beim Namen nennen zu können: "Magnetische Vergiftung".
Wörter sind die Strohhalme, an die er sich klammert. Die Sprache
ist seine einzige Waffe gegen den übermächtigen Feind
und Krauß nimmt den Kampf auf:
"Janeke, ein kopfloser Gassenjodel, gepfercht auf Sägebockfüßchen,
sein Cretinenkopf mit Hottentottenmaul ohne Kinn, mit Wurstzipfelnase
u. Kalbsaugen, überragt von einem Borstengrind, die Ärmlein
gleich Glockenschwengeln auf die eingedrückte Brust herabpampelnd
u. aus diesem Jammerconflict ein Auskehricht von Redensarten stoßend,
macht er eine Figur, die dem Frosche näher steht als dem Apollo
u. die man mit Unrecht besänge."
"Die Tochter des van Asten, selbst mager u. bleich, von ausgespitzten,
nickelhaften Zügen, ist ein naivgeiler, kurzhalsiger Schlotterklumpen
mit schierlingsfarbenem Fell, plumpem Hyänenkopf u. Mopsnase,
mit stieren runden Stockfischaugen, dummglotzig wie eine Meduse,
mit eckeler Gailheit Alles aushängend und pudelfrech sich bäumend,
dabei plumpsackig brutal, ein wahres Scheubild für alle edleren,
nicht rohthierischen Gefühle."
Während "Zwickurschel" nach zwei Jahren verstummt,
setzen die übrigen drei Verfolger ihr schreckliches Tun fort,
auch als Krauß Antwerpen längst verlassen hat. Er unterläßt
nichts, um ihnen das Handwerk zu legen. Unzählige Gesuche,
Anzeigen, Petitionen bei deutschen und belgischen Behörden,
umfangreiche Briefwechsel mit Experten für tierischen Magnetismus,
sogar eine Audienz beim König der Niederlande "Resultat=0",
notiert Krauß, und das "Delirium Tremens der Seelengemeinheit"
setzt sich fort, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt.
Krauß lebt mit seinen Schindern wie mit einer Familie; sie
reisen mit ihm, sie werden mit ihm älter, sie sind sein "substituirtes
Ich": "Stellt ihnen Fragen wie an mich selbst; fragen
Sie das Weibsbild, welche Liedchen die Kinder in Schwaben singen;
sie weiß es von mir; denn jedes einzelne dieser drei Wesen
ist mein Alter Ego, weiß mich auswendig. Sie verunstalten,
verdrehen und verspotten meine Gedanken, durchkreuzen sie, wehren
sie ab, suchen andere unterzuschieben, und jedes Wort wird vor und
nachgeschwätzt, die Worte herausgeschnüffelt, wie wenn
ein Schwein im Boden wühlt; so daß sie oft das bei mir
entstehende Wort so lange hersagen, bis es geschrieben ist, daran
drehen, die Worte seciren, sich in ihrer Geistesarmuth an jede Sylbe
anklammern, um eine höhnende Deutung herauszumelken ..."
Krauß protokolliert. Sein "Diarium der Peinigungen"
ist voll von den Hohnreden der Verfolger, niedergeschrieben, noch
während er sie hört. "Du muast a bissale ausgebrannt
sey", keift van Asten. "Dees freut mi grad, daß
ich so en kräftiga Mann kann nuntermacha", jubelt seine
Tochter. Und wieder zischt das magnetische Gas in die Ohren, wieder
beginnt das Brennen, Drehen, Nudeln, das Ausglühen von Kopf,
Bauch und After, das stundenlange "Knaspern und Schaben"
am Genital. "Stirb, Schwobavieh", grunzt Janeke. "Quel
plaisir", kreischt das Weib. Krauß "beißt
die Zähne zu Sägen" und schreibt, schreibt, schreibt.
Und er verdient seinen Lebensunterhalt. In Antwerpen steckt man
ihn in ein Irrenhaus, nachdem er seinem Kollegen Janeke "Maulschellen
präsentirte", danach kehrt er heim nach Deutschland. Er
unterrichtet Sprachen, Buchhaltung und technische Chemie in Heidelberg.
Danach arbeitet er als reisender Handelsvertreter, unterwegs in
Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Der Mann mit dem Musterkoffer,
auf den Lippen ein verbindliches Lächeln, im Kopf das Inferno.
Die "Gedankengeier" setzen alles daran, ihn bei den Kunden
unmöglich zu machen. Sie verwirren seine Sprache, sie bringen
ihn zum "Diebsglotzen", sie machen ihn schwitzen, stammeln,
röten sein Gesicht, "vergeilen" seinen Blick. "Man
begreift, daß diese plötzlichen Veränderungen die
Kunden stutzig machen; sie sehen sich verwundert an und scheinen
sich abgewandt zu sagen, daß sie sehr dumm gewesen, mich für
einen geordneten Reisenden zu halten. In demüthiger Zerknirschung,
möglichst vermeidend, mein durch die Magnetisirer brühgekochtes
und gluthgedunsenes Antlitz zu zeigen, rückschachtle ich also
meine Muster, um mich mit wenigstmöglich Geräusch zu eclipsiren,
mir noch Glück wünschend, wenn Nickel van Esel mir dies
nur am Ende, nicht beim Beginn oder in Mitte des Geschäftes
angethan."
Krauß
bleibt berufstätig bis ins hohe Alter. Sein Wahn verliert nie
an Intensität. Janeke ist eines Tages verstummt, aber van Asten
und "das Mensch" füllen die Lücke mühelos.
"Varecka sollst du, Herr Fritz!": Krauß kennt das
Geplärr längst auswendig. Er reist, handelt, schreibt.
Eine Weile korrespondiert er mit Justinus Kerner und bekommt sogar
ein Glas von ihm, das magnetische Strahlung ableiten soll; dann
wendet sich Kerner von dem "mit der Einbildung Gestraften"
ab. Die Verfolger legen Krauß nahe, er möge sich erschießen,
erhängen, die Kehle durchschneiden, mit dem Rasiermesser seine
Augenlider aufschlitzen. Krauß gehorcht nicht. Er schreibt.
Manchmal versucht er über die Dummheit der "Canaillen"
zu lachen. Er freut sich über Gewitter, denn wenn es donnert,
übertönt das die Stimmen und er kann schlafen. 1868, mit
77 Jahren, stirbt Friedrich Krauß in Stuttgart. "Ein
Trost blieb mir stets", schreibt er. "Das Bewußtsein
meiner Würde."
Weitere
Informationen über Friedrich Krauß und ein längerer
zusammenhängender Text aus seinem "Nothschrei eines Magnetisch-Vergifteten"
in dem Sammelband
Thorsten
Hahn et al. (Hg): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur
Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910. Campus Verlag
2002.
Mit
fünf Beiträgen über Friedrich Krauß von Thorsten
Hahn, Albert Kümmel, Stefan Rieger, Bernhard Siegert und Christine
Wunnicke
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