C h r i s t i n e   W u n n i c k e


HOME

            Robert Hooke

Ein barockes Universalgenie in Newtons Schatten


Südwestrundfunk, SWR2 vor Mitternacht, 28. März 2004

Funkmanuskript, © Christine Wunnicke 2004



Erzähler:
Im November 1703 wird Isaac Newton zum Präsidenten der Royal Society gewählt. Die Zeremonie ist längst schon überfällig: Zwar noch nicht zum allwissenden Gott der Physik erhoben, wie es später im 18. Jahrhundert geschehen wird, und noch nicht einmal zum Sir geadelt, gilt Newton in London doch längst als der konkurrenzlose Star der modernen Naturwissenschaft. Keiner scheint besser geeignet als er, dem europaweit verehrten Gelehrtenclub, den man die Royal Society nennt, eine Richtung vorzugeben und ihn erfolgreich in ein neues Jahrhundert zu führen – darin sind sich das Wahlkommitee und Mr. Newton einig. Ein Hindernis stand seiner Präsidentschaft lange im Weg: sein Kollege Robert Hooke. Im Gresham College, wo auch die Royal Society ihren Sitz hat, lag er störrisch auf dem Sterbebett und wollte nicht sterben – ein verbitterter, einsamer alter Mann. Einst war Robert Hooke der berühmteste Wissenschaftler von London. Die Royal Society lag in seinen Händen, ihre Experimente, ihre Traktate und Korrespondenz, die Sammlungen von Künsten und Wundern. Kein Instrument, das er nicht erfunden oder verbessert hat, kein Fach, in dem er nicht brillierte, Physik, Chemie, Astronomie, Mathematik, Biologie, Geologie, Architektur.
1672 hat sich Hooke mit Newton über die Lichtbrechung getritten. 1687, als Newton seine Principia publizierte, behauptete Hooke, das Gravitationsgesetz sei seine Idee gewesen – nicht ganz zu Unrecht. Mr. Hooke hasst Mr. Newton. Mr. Newton hasst Mr. Hooke. Bevor sein Feind nicht gestorben ist, will Newton nicht Präsident der Royal Society werden, und auch sein Hauptwerk, die Optik, das schon lange fertig in der Schublade liegt, gibt er erst in den Druck, als Hooke endlich unter der Erde ist. Unter Newtons Präsidentschaft verlässt die Royal Society das Gresham College, jenen schönen Bau an der Bishopsgate Street, in dem sie 40 Jahre lang wöchentlich zusammentrat, und zieht in den Crane Court – weit fort von Hookes Geist, der durch seine alten Zimmer im Gresham College streicht und noch immer über den verfluchten Plagiator Newton murrt. Isaac Newton tilgt Robert Hooke aus den Annalen der Wissenschaft, so gut er es vermag. Man zitiert ihn nicht mehr. Seine Publikationen kommen aus der Mode. Die Apparate und Instrumente, die er erfand, verstauben und gehen kaputt. Alle Portraits, die von Hooke existierten, verschwinden in Newtons Amtszeit mysteriös aus den Akten und von den Wänden der Royal Society. Newton wird immer berühmter, bis zu seinem Tod und darüber hinaus. Robert Hooke geht in der Geschichte verloren, und man hat ihn bis heute nicht wirklich wiedergefunden. Drei Dinge sind nach ihm getauft: Ein Marskrater. Das sogenannte Hooke- oder Kardan-Gelenk, das sich in jedem Fahrzeugmotor findet. Und eine Elastizitätsgleichung aus der Physik – das Hookesche Gesetz: "Die Dehnung ist der Zugspannung proportional". Hätte Robert Hooke im Jahr 1672 den Mund gehalten, als ihm Isaac Newtons Ausführungen über die Lichtbrechung nicht behagten, vielleicht wären seine Spuren heute weniger bescheiden. Es gibt kaum eine Naturwissenschaft, die Mr. Hooke nichts zu verdanken hätte. Ebenso wie Newton, war er nicht unbedingt der verträglichste Zeitgenosse.

Hooke:
3. Februar. Newton der größte Mistkerl des Hauses.
15. Februar. Traf Mr. Newton bei Mr Halley. N. behauptet in seiner Eitelkeit, Gesetz ist von ihm.
3. Juli. Royal-Society-Sitzung, Hoskyns, Henshaw, Hill, Hall. Dann kam Newton herein und ich ging hinaus.

Musik: John Blow, "Arms he delights in"

Erzähler:
Robert Hooke wird am 18. Juli 1635 in Freshwater auf der Isle of Wight geboren. Die Familie ist respektabel, aber nicht wohlhabend, der Vater Pfarrer in der Dorfkirche nebenan. Die älteren Geschwister, John und Catherine, entwickeln sich prächtig, Robert hingegen will nicht recht gedeihen. Ständig Kopfschmerzen, ständig erkältet, ein schwarzgalliges Temperament. Auch ist er ein bisschen buckelig, mit der Verdauung hapert es ebenfalls, außer Milch verträgt er kaum etwas und nachts kann er nicht schlafen. Statt ihn auf eine Schule zu schicken, erzieht ihn der Vater zu Hause, lesen, schreiben, ein bisschen Latein, nur das nötigste. Niemand glaubt daran, dass der hässliche kleine Robert seine Kindheit überlebt. Man lässt ihn meistens in Ruhe. Er streift rastlos durch die Landschaft, sammelt Muschelschalen und Pflanzen, grübelt nach über das seltsame Gestein, aus dem die Isle of Wight gewachsen ist. Ein Kriegsschiff legt an. Robert fertigt ein naturgetreues Modell, inklusive kleinen Kanonen, die mit Steinchen schießen können. Er zerlegt eine alte Uhr, kopiert jedes Teil in Holz und baut alles wieder zusammen: die hölzerne Uhr funktioniert perfekt. Robert bastelt Wassermühlen, Sonnenuhren, Fischreusen, Vogelfallen, erfindet rätselhafte Apparate, mindestens einen am Tag. Er ist ein unruhiges, merkwürdiges Kind. Vom ständigen Basteln wird sein Rücken immer krummer. Ein Londoner Künstler kommt auf die Isle of Wight, um dort zu malen. Das kann Robert auch. Er errät die Regeln der Perspektive, er stößt Kalk und Rötel zu Pigment, und bald hat er alle frommen Bilder im häuslichen Wohnzimmer kopiert. 1648 stirbt der Vater. Von der spärlichen Erbschaft fällt das meiste an den robusten und freundlichen ältesten Sohn. John Hooke wird Lebensmittelhändler auf der Isle of Wight und der dreizehnjährige Robert schifft sich ein, 100 Pfund in der Tasche, um in London das Malerhandwerk zu erlernen.
Er bricht seine Lehre jedoch ab, noch bevor sie richtig begonnen hat. Von Ölfarben bekommt er Migräne, und außerdem, so sein Freund John Aubrey, reut ihn das Lehrgeld:


Zitator (Aubrey):
Mr. Hooke hatte sofort begriffen, wie die Malerei funktioniert, und so dachte er sich, warum kann ich es nicht einfach tun und meine 100 Pfund behalten?

Erzähler:
Robert investiert in eine anständige Ausbildung – die Westminster School, die renommierteste Knabenschule des Landes. Der Vierzehnjährige scheint über seine Entscheidungen niemandem Rechenschaft abzulegen. England hat gerade zwei Bürgerkriege hinter sich. König Charles I wurde enthauptet, das "freie Commonwealth" ausgerufen – von Freiheit ist jedoch wenig zu spüren. Dr. Busby, der Rektor der Westminster School, hat 20 Musketen und 20 Pfund Schwarzpulver gekauft und seine Schüler bewaffnet: Sie verteidigen die Orgel und den Schmuck der Kirche gegen den puritanischen Mob, der solches Blendwerk des Teufels gerne niederreißt. Der junge Hooke interessiert sich nicht für Politik und – für einen Pfarrerssohn – auch erstaunlich wenig für die Religion. Dr. Busby schließt seinen neuen Schüler ins Herz. Er nimmt ihn in seinem eigenen Haus auf. Robert lernt die ersten sechs Bücher des Euklid in einer Woche. Er bringt sich selbst das Orgelspielen bei und erfindet dreißig verschiedene Flugmaschinen –

Hooke:
– nachdem ich allerdings in Selbstversuchen und durch Berechnungen herausgefunden hatte, dass die Muskeln des menschlichen Körpers doch nicht wirklich zum Fliegen geeignet sind, richtete ich meinen Sinn zunächst auf die Erfindung von künstlichen Muskeln.

Erzähler:
Dr. Busby befreit diesen Schüler vom Unterricht. Robert studiert allein in der Bibliothek. Die 100 Pfund gehen zur Neige. Ein Universitätsstudium kann er nicht finanzieren. Dennoch will er nach Oxford. Wenn nicht Robert Hooke, wer dann? Glücklicherweise verfügt der unscheinbare Junge neben seinen sonstigen Gaben auch über eine schöne Singstimme.

Zitator (Aubrey):
So bekam er in der Christ Church in Oxford eine Stelle als Chorsänger, wodurch er recht nett sein Auskommen hatte.

Erzähler:
Wenn der junge Mr. Hooke im Hof der Universität Flugexperimente veranstaltet oder seine künstlichen Muskeln ausprobiert, ist sein Selbstbewusstsein ungebrochen. Denkt er über seine Position in Oxford nach, kommt es ein wenig ins Wanken. Er ist ein besoldeter Chorist, kein richtiger Student, nicht wirklich ein "Gentleman" im Sinne seiner Zeit. Er ist empfindlich. Er passt auf, was man über ihn spricht, ob einer zu spotten wagt über seine Finanzen, seine Maschinen oder seinen schiefen Hals. Hookes Talente bleiben in Oxford nicht unbemerkt. Einige Herren, die der "Natural Philosophy" anhängen – heute würde man "Naturwissenschaft" sagen – nehmen ihn unter ihre Fittiche. Dr. Ward lehrt ihn die Astronomie und Dr. Willis die Zergliederung des menschlichen Körpers. Für den "Natural Philosopher" gibt es keine Trennung der Fakultäten, keine Kluft zwischen Grundlagenforschung und Anwendung. Alles ist betrachtenswert, die Schöpfung ein verschlüsseltes Buch, dessen Chiffre man knacken kann, wenn man sich nur fleißig bemüht. Aristoteles und die heilige Schrift sind längst nicht mehr kanonisch. Man vertraut seinen Sinnen und seinem Verstand. Ziel ist stets der empirische Nachweis, das kontrollierte, wiederholbare Experiment. "Nullius in verba" wird später das Motto der Royal Society lauten: Glaube keinen Worten ohne Beweis. Robert Hooke fühlt sich schnell zu Hause in diesem Club der ein wenig gottlosen Experimentatoren. Dr. Willis empfiehlt den jungen Mann dem renommierten Chemiker Robert Boyle, einem Privatgelehrten aus aristokratischer Familie. Robert Hooke zieht das Chorhemd aus und wird Mr. Boyles Assistent – wahrscheinlichlich der erste "wissenschaftliche Angestellte" der Geschichte. Die Stelle ist wie geschaffen für ihn und Mr. Boyle behandelt ihn fast wie einen Gleichgestellten. Dennoch: eines Gentleman würdig ist auch diese Position nicht.
Robert Boyle ist heute berühmt als Entdecker des sogenannten Boyleschen Gesetzes, wonach das Produkt aus Volumen und Druck eines Gases bei gleichbleibender Temperatur konstant ist. Als Robert Hooke in Mr. Boyles Dienste tritt, ist dieser am Rande der Verzweiflung: Seine Forschungen über Luft- oder Gasdruck stagnieren, da der Apparat für die Messungen fehlt. Die Pumpe, mit der Otto von Guericke seine Magdeburger Halbkugeln per Vakuum zusammenleimte, ist zu primitiv, an einer Verbesserung haben sich schon viele englische Mechaniker versucht und sind gescheitert. Robert Hooke nimmt die Bemühungen seiner Vorgänger in Augenschein –

Hooke:
Alles viel zu plump, um irgendeinen nennenswerten Effekt zu erzielen!

Erzähler:
– und macht sich an die Arbeit. Bald ist der "Pneumatische Apparat" für Mr. Boyle fertiggestellt. Er pumpt die Luft um ein Vielfaches schneller und kontrollierter aus dem Behältnis als jede Maschine zuvor und außerdem erlaubt Hookes Konstruktion, den Apparat an gewaltige Kammern anzuschließen, groß genug, um einen ausgewachsenen
Naturphilosophen zu beherbergen, wenn er das Bedürfnis verspürt, die Wirkung fehlender Luft am eigenen Leibe auszuprobieren –

Hooke:
Ein miserables Gefühl im Kopf, Sausen und Druck in den Ohren.

Erzähler:
Über allerlei Umwege und Zwischenstufen entwickelte sich aus Hookes grandioser Pumpe ein Gerät, das hundert Jahre später die Welt veränderte: Die Dampfmaschine. Das Gasdruck-Gesetz, das mit Hilfe von Hookes pneumatischem Apparat entdeckt wurde und wahrscheinlich auch auf Hookes Berechnungen fußt – Mr. Boyle war halb blind und kritzelte nicht gerne Zahlen – wird Boyle alleine zugeschrieben. Assistent bleibt Assistent; das ist meist heute noch so. Denkt man an Mr. Hookes spätere Wutausbrüche, wenn er um eine Idee betrogen wird oder sich darum betrogen fühlt, verwundert es, wie friedlich er es sich in Oxford gefallen lässt. Ist es Ehrfurcht vor Boyle, Dankbarkeit, Sympathie, oder doch diese gewisse Ahnung, ein bezahlter Helfer sei minderwertig und habe keinen Anspruch auf Urheberrechte? Hooke arbeitet weiter für Boyle und bleibt ihm ein Leben lang in Freundschaft verbunden.

Musik: Henry Purcell "May all factious troubles cease"

Erzähler:
Im Mai 1660 hält König Charles II Einzug in London. Das Parlament restauriert die Monarchie. Im selben Jahr erhält der Club von Experimentalphilosophen, der seit Jahren inoffiziell in Oxford und London sein Netzwerk spinnt, den königlichen Freibrief und nennt sich The Royal Society. Jeder Gelehrte, der etwas auf sich hält, wird Mitglied. Robert Hooke kennt sie alle. Seit Jahren trifft er sich mit den Gentlemen, debattiert mit ihnen, baut Instrumente für ihre wissenschaftlichen Versuche, Lampenhalter für ihre Kutschen, Uhren für ihre Salons. Nach wie vor ist er der Assistent von Mr. Boyle. Er wird nicht Mitglied der Royal Society. Dafür tritt er im Jahr 1662 in ihre Dienste. Man nimmt zu Protokoll:

Zitator (Journal Book of the Royal Society)
Eine Person wurde vorgeschlagen, welche gewillt sei, der Gesellschaft als Kurator zu dienen und für jede wöchentliche Sitzung drei bis vier beachtliche Experimente zu produzieren sowie noch weitere, sollte die Gesellschaft danach verlangen. Hierbei dürfe diese Person zunächst keine Bezahlung erwarten, bis nicht die Gesellschaft mittels einer Geldanleihe dazu befähigt wäre, diese zu leisten. Mr. Boyle wurde dafür Dank gesagt, dass er der Gesellschaft zu diesem Zwecke Mr. Hooke überließ.


Erzähler:
Robert Hooke, 27 Jahre alt und noch immer nicht wirklich ein Gentleman, nimmt die Zügel der Royal Society in die Hand und lässt sie drei Jahrzehnte lang nicht mehr los. Man weist ihm einige Zimmer im Gresham College zu. Dort wird er bis zu seinem Lebensende wohnen und arbeiten, Tag und Nacht, drei Stunden Schlaf müssen reichen. Die Royal Society tagt oft in Mr. Hookes Salon, und wenn sie nicht tagt, kommen die Mitglieder einzeln, zum Gedankenaustausch, zum Zanken, zur Besichtigung oder Bestellung neuer Instrumente und Geräte. Fast von heute auf morgen avanciert der Kurator Hooke zum Schutzheiligen, zur Personifikation der Royal Society. Er kümmert sich um alles: Die Experimente, die Bibliothek, die internationale Korrespondenz, die Naturaliensammlung, die überquillt von Spenden, Stachelschweine, Blasensteine, Missgeburten aller Art und auch das eine oder andere Horn eines Einhorns.

Hooke:
Und ich schrieb der Society ihre Gesetze.

Erzähler:
Er formuliert genau, was Thema ist und was nicht. Es sind klare Aussagen.

Hooke:
Die Royal Society hat zum Ziel, das Wissen über alle Erscheinungen der Natur zu befördern sowie über alle nützlichen Künste, Fertigungstechniken, mechanischen Praktiken, Maschinen und experimentellen Erfindungen. Nicht einmischen soll sie sich in Themen der Theologie, Metaphysik, Moral, Politik und Rhetorik.

Erzähler:
Die Experimente, die Robert Hooke entwirft und vorführt, reichen von mikroskopischen Studien bis zu Verbrennungsversuchen und unzähligen chemischen Reaktionen, von Analysen der Dichte, des Gewichts, der Brechungskraft von Wasser bis zu Hauttransplantationen und Bluttransfusionen an lebenden Hunden. Die Royal Society ist ein geschwätziger, chaotischer, genialer Verein. Liest man die Sitzungsprotokolle, kann man ahnen, aus welchem euphorischen Durcheinander die heutigen Naturwissenschaften geboren wurde.
Man findet wichtige Entdeckungen –

Zitator (Protokoll der Royal Society)
Mr. Hooke hat berichtet, dass er aus Beobachtungen mit seinem neu konstruierten Teleskop geschlossen hat, dass der Jupiter um seine Achse rotiert.

Erzähler:
– seltsame Geschichten –

Zitator (Protokoll der Royal Society)
Ein Brief von Monsieur Monconis wurde verlesen, in welchem er von einer Frau in Frankreich erzählt, die über eine lange Zeit hinweg einmal im Monat einige perfekt geformte Knochen eines Kindes mit dem Urin ausschied.

Erzähler:
– und manchmal auch beides zugleich:

Zitator (Protokoll der Royal Society)
Nachdem Mr. Leeuwenhoek die Gesellschaft brieflich davon unterrichtet hatte, dass er, als er jener weißlichen Masse, die er zwischen seinen Zähnen herausgekratzt hatte, eine mikroskopische Untersuchung zuteil werden ließ, darinnen eine große Zahl lebender Tierchen fand, welche sich auf das Hübscheste bewegten, wurde Mr. Hooke beauftragt, dieses Experiment zu wiederholen. Er berichtete, dass er ebensolche Tierchen gesehen habe, und zwar verschiedene davon, in Milch, Blut, Speichel sowie in Aufgüssen von Pfeffer, Weizen und Gerste.

Erzähler:
Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, die Interessen der Royal Society und ihres energischen Kurators zusammenfassen zu wollen. Robert Hooke beobachtet Kometen und stellt Betrachtungen an über ihre Materie, ihre Fallgeschwindigkeit und ihr Verglühen. Er erfindet ein Barometer, einen Windmesser, eine Methode, Wetterkarten zu erstellen und begründet die Meteorologie als Wissenschaft. Er stellt die Hypothese auf und beweist sie im Experiment, dass Verbrennung eine in der Luft enthaltene Substanz benötigt und diese verbraucht – es wird weit über hundert Jahre dauern, bis ihm das jemand glaubt. Er erforscht die Ursachen von Erdbeben. Er erfindet eine Methode zur drahtlosen Telegraphie, eine Taucherglocke, ein U-Boot, eine neue Art der Ziegelherstellung, eine Strategie, den Erdumfang zu messen, ein Gerät zur künstlichen Beatmung, mindestens 20 verschiedene Uhren, verbesserte Mikroskope, Maschinen zum Linsenschliff und zum Färben von Stoffen, Geräte für Land-vermesser und Kartographen, eine Methode, die Gravitationskraft mittels eines schwingenden Pendels zu bestimmen, Lampen, Kutschenfederungen, Navigationssysteme, das Universalgelenk und das erste Gregorianische Teleskop, das er dazu benützt, eine Methode zu entwickeln, mit der man die Erdentfernung von Fixsternen berechnen kann. In der ihm eigenen knappen Art notiert Mr. Hooke einmal in sein Tagebuch: "Spent most of the day in considering all matters".

Hooke:
Habe den größten Teil des Tages damit zugebracht, über alle Angelegenheiten nachzudenken.

Erzähler:
Und wenn Robert Hooke "alle" schreibt, so meint er auch alle. Die Hälfte seiner Ideen setzt er um. Die andere Hälfte vergisst er sofort wieder. John Aubrey meint –

Zitator (Aubrey)
Bei einer so großen erfinderischen Begabung wie der seinen darf man wohl nicht erwarten, dass das Gedächtnis ebenso exzellent funktioniert; denn die beiden sind wie zwei Waagschalen, und wenn eine hoch hinauf geht, senkt sich die andere tief.

Erzähler:
Die Royal Society bezahlt ihren Kurator keinesfalls. Allerdings hat er nun eine Stelle von der Gresham-Stiftung bekommen und hält für interessierte Laien Vorlesungen über Geometrie. Reich macht sie ihn nicht, die Naturphilosophie. Er bekommt nicht einmal Patente. Doch Robert Hooke scheint das nicht weiter zu stören. Auch über die Frage, wo der Bedienstete aufhört und der Gentleman anfängt, denkt er nicht mehr allzu oft nach. Mr. Hooke ist glücklich. Er hat den schönsten Beruf der Welt.

Hooke:
Darum empfehle ich auch jedem Herrn von Qualitäten, sofern er die Zeit dafür aufbringen kann, dass er sich solcherlei Studien widmet. Die Vielfalt der Dinge, die zu erforschen sind, ist so groß, die Methoden, sich ihnen zu nähern, sind so mannigfach, und die Befriedigung, Neues zu entdecken, ist ein derart erfreuliches Gefühl, dass ich mich erdreisten möchte, den Genuss hierbei nicht nur mit dem zu vergleichen, der aus der Kontemplation erwächst, sondern viel mehr noch mit jenem, den die meisten Menschen am liebsten haben: dem Vergnügen der Sinne.

Erzähler:
Gefragt, wie viele Experimente er in der Royal Society vorgeführt habe, zuckt Mr. Hooke die Achseln. Tausend? Tausende!

Musik: Henry Purcell, "A thousand, thousand ways we´ll find to entertain the hours"

Erzähler:
1665, in London wütet die Pest, erscheint Robert Hookes Opus Magnum:

Hooke:
"
Micrographia. Oder: Einige physiologische Beschreibungen kleinster Körper, gesehen durch Vergrößerungsgläser, sowie Beobachtungen und Untersuchungen hierzu."

Erzähler:
Das Buch wird ein gewaltiger Erfolg.

Zitator (Pepys)
Bis zwei Uhr morgens wach mit Mr. Hookes Mikroskopie-Band. Das genialste Buch, das ich in meinem Leben las –

Erzähler:
– notiert Samuel Pepys in sein Tagebuch. Natürlich gibt es auch Spott: Mr. Hooke hat ein Buch veröffentlicht, das von Schaben und Flöhen handelt! Doch der Autor kann nichts Lächerliches daran finden. Im Vorwort zur Micrographia schreibt er –

Hooke:
So will ich denn meine Würmchen und Maden in die große Schatztruhe der Wissenschaft werfen. Und dann können diese meine kleinen Objekte mit den größeren Erzeugnissen der Natur in einer Reihe stehen: Ein Floh, ein Wurm, eine Mücke mit einem Pferd, einem Elefanten, einem Löwen.

Erzähler:
Von ähnlichem Selbstbewusstsein zeugen die Abbildungen. Hooke hat sie selbst gezeichnet. Sein Meisterwerk ist eine Kopflaus, von unten betrachtet, die quer vor ihrer Brust ein menschliches Haar in den Krallen hält wie ein Krieger seinen Speer. Fast einen halben Meter lang ist diese Tafel, und sie erinnert in ihrer kühlen Grandezza auf das Befremdlichste an ein barockes Herrscherportrait. Unbeschadet aller wissenschaftlichen Akribie, mit der er seine Beobachtungen festhält, nimmt die Schönheit der Schöpfung den Autor immer wieder so gefangen, daß er ins Schwärmen gerät:

Hooke:
Die Samen des Mohnes sind unter dem Mikroskop außerordentlich hübsch: von dunkler rotbrauner Farbe und wunderbar honigwabenartig mit einer sehr anmutigen Netzstruktur überzogen.

Erzähler:
Selbst haarigen Schimmel betrachtet er mit dem Kennerblick eines Kunstsammlers:

Hooke:
Die Konsistenz dieser wohlgewachsenen Angelegenheit ist sehr zart und zierlich.

Erzähler:
Doch die Micrographia ist noch viel mehr als eine Sammlung mikroskopischer Schönheit. Ausgehend von einer Gliederung in unbelebte Objekte, Pflanzen und Tiere, unterbreitet Hooke dem geneigten Publikum im Schnelldurchlauf so gut wie sämtliche Themen, mit denen er sich je befasst hat – und wie man weiß, gibt er derer viele. Das Buch ist eine Fundgrube, und man findet Erstaunliches. Hooke unterzieht die Substanz von Schwämmen einer chemischen Analyse und schließt daraus, dass es sich bei ihnen um Tierskelette handelt – nicht um Pflanzen, wie jedermann sonst vermutet. Er stellt die Hypothese auf, die Täler des Mondes seien Einschlaglöcher von Meteoriten; um dies zu verifizieren, knetet er eine Tonkugel, schießt darauf und untersucht die Löcher unter dem Vergrößerungsglas. Er mikroskopiert hauchdünne Korkscheibchen und beschreibt, was er sieht:

Hooke:
Ich konnte wunderbar klar erkennen, dass das Präparat porös war und wie eine Honigwabe aus lauter kleinen Abteilen oder Schächtelchen bestand, die nicht regelmäßig waren, voneinander getrennt durch dünne Wände. Ich habe unter dem Mikroskop noch nie zuvor gesehen, dass eine Pflanzensubstanz solche Poren hat; Zellen, könnte man auch sagen ...

Erzähler:
Zellen sagt man bis heute. Hooke hat sie zum ersten Mal beschrieben und ihnen den Namen gegeben. Ausgehend von der Brechungskraft von Glas und Wasser stellt er eine ausgeklügelte Theorie über das Licht und die Entstehung der Farben auf. Aus heutiger Sicht ist sie falsch; allerdings inspirierte sie, zu Hookes Unglück, einen introvertierten jungen Wissenschaftler namens Isaac Newton, sich über die Grundlegungen der Optik Gedanken zu machen. Weit seiner Zeit voraus ist Hooke in der Deutung tierischer und pflanzlicher Fossilien. Allgemein werden solche Fundstücke als "ludus naturae", als eine Art Scherz des schöpfenden Gottes betrachtet, gesammelt und abgetan. Robert Hooke – als Kind der Isle of Wight ist er aufgewachsen mit Versteinerungen – untersucht zum ersten Mal fossiles Gestein unter dem Mikroskop. Es sieht aus wie Muschelschalen, wie Pflanzen. Hooke denkt nach und kommt zum richtigen Ergebnis: Fossilien waren einst Tiere und Pflanzen –

Hooke:
– welche durch Hochwasser und Überschwemmungen, Verschiebungen des Bodens, Erdbeben oder ähnliches an diesen Ort geworfen wurden und durch gewisse Kräfte, die der Erdsubstanz innewohnen, zu Stein geworden sind.

Erzähler:
Hier befindet sich Mr. Hooke auf gefährlichem Terrain. Lebte er in Frankreich oder Deutschland, sollte er an dieser Stelle besser nicht weiterdenken, denn versteinerte Tier- und Pflanzenarten führen einen schnell zur Erdgeschichte, und die Erdgeschichte ist beschrieben im ersten Buch Mose. Robert Hooke ist jedoch Engländer. Auf dieser glücklichen Insel ist die heilige Schrift als Grundlegung der exakten Wissenschaften nicht mehr wirklich en vogue. Deshalb darf Mr. Hooke, fast zweihundert Jahre vor Darwin, folgende Sätze publizieren, ohne dafür auf den Scheiterhaufen zu kommen:

Hooke:
Wir wollen also annehmen, dass es in früheren Zeiten der Erde verschiedene Spezies oder Kreaturen gab, die heute ausgestorben sind und nirgendwo auf der Welt noch existieren. Weiterhin, dass es in früheren Zeiten Geschöpfe gab, die den heutigen zwar ähnelten, aber von gigantischer Größe waren – bis zu zehnmal so groß wie ihre jetzigen Verwandten. Wir vermuten überdies, dass verschiedene Spezies nicht in genau der Art und Bildung, wie man sie heute sieht, geschaffen worden sind, sondern sich über die Zeit verändert haben, so sehr, dass sie jetzt nicht mehr der ursprünglichen Spezies ähneln. Ferner, dass durch Kreuzung von Arten neue Arten entstanden sind und die anfänglichen, ihre Vorfahren, aus diesem oder jenem Grund verschwunden sind und nicht gleichzeitig mit ihren Nachfahren auf Erden existieren.

Musik: Pelham Humphrey, "Lord, I have sinned"

Erzähler:
Im September 1666 bricht in London ein Feuer aus und zerstört vier Fünftel der Innenstadt: 13.000 Wohnhäuser, 87 Kirchen, das Zentralpostamt, die Guildhall, die Royal Exchange, 44 Zunfthäuser und die St. Paul´s Cathedral. Das Gresham College bleibt verschont. Die Royal Society und die Gresham-Stiftung werden evakuiert und das College zur Kommandozentrale für den Wiederaufbau. Zwei Herren von der Royal Society wird die Oberaufsicht übertragen: Sir Christopher Wren, dem Astronomen, der vor einer Weile auf die Architektur umgesattelt hat, von Seiten des Hofes, und Robert Hooke, dessen Interesse für Stadtplanung sich bislang in Grenzen hielt, von Seiten der City of London. Die beiden frischgebackenenen Inspektoren sind eng befreundet. Kaum jemand kann so gut mit Mr. Hookes Empfindlichkeiten umgehen wie der kühle und wohlerzogene Christopher Wren, und kaum jemand gibt Hooke so wenig Anlass zum Schimpfen wie dieser. Wrens Bauten – allen voran die St.Paul´s Cathedral – prägen noch heute das Stadtbild; von Hookes Gebäuden blieb nur wenig erhalten. Kaum sind die Flammen gelöscht, beginnt er zu planen: Sein Entwurf für ein neues London erinnert ein wenig an New York und wird von der Stadt verworfen. In den Jahren ab 1666 ist Inspektor Hooke unablässig auf den Beinen. Er rennt durch London, stets zu Fuß, und kümmert sich um alles. Er schreibt Gutachten über jedes Grundstück und jede Ruine, stellt Zertifikate für Besitzer und Baumeister aus, erforscht Grundwasserstand, Kanäle, Gestein, leitet die Sitzungen der diversen Planungskommitees, beaufsichtigt die Baustellen, verhandelt über Kosten, Material, Statik. Ein Neuling in der Architektur, baut er das Königliche College für Ärzte, den Marstall für die Königin, das Bedlam Hospital für Geisteskranke, das Zunfthaus der Schneider, einen großen Teil des Observatoriums in Greenwich und zahllose Privathäuser für reiche Bürger und Aristokraten. Geldsorgen hat er nun keine mehr. Dennoch hält er weiter seine Vorlesungen für die Gresham- und bald auch für die Cutler-Stiftung – über Mathematik, über die Mechanik von Feder und Pendel, über Kartographie, Geologie, Biologie. Auch seine Verpflichtungen als Kurator der Royal Society vernachlässigt er keinen Augenblick. Wöchentlich drei Experimente – London mag in Schutt und Asche liegen, den Appetit der Gentlemen auf neue Entdeckungen beeinträchtig das nicht. Gleichzeitig führt Hooke seine eigenen Forschungen fort, auf jedem einzelnen Gebiet. Es ist unmöglich nachzuvollziehen, wie ein einzelner Mensch dieses Arbeitspensum bewältigen kann. Hooke ist überall gleichzeitig – ein kleiner dünner Mann mit schnellem Schritt, der manchmal laut vor sich hin singt, um seinen Tinnitus zu übertönen. Mr. Hooke ist unersetzlich. Er gehört zum Stadtbild wie der Milchmann, der Sänftenträger, der Zeitungsjunge. Inspektor Hooke, wenn er vorübereilt zu dem einen oder anderen Termin, ist kein besonders schöner Anblick. Richard Waller, Sekretär der Royal Society, versteht es nicht zu schmeicheln:

Zitator (Waller):
Was Mr. Hookes Aussehen anging, war er recht abscheulich – sehr krumm gewachsen, blass und hager und nichts als Haut und Knochen, seine Augen grau, mit scharfem Blick, die Nase schmal, dünne Oberlippe, scharfes Kinn, große Stirn. Er trug sein eigenes dunkelbraunes Haar, das ihm sehr lang und strähnig ins Gesicht hing.

Erzähler:
Und auch Samuel Pepys wundert sich:

Zitator (Pepys)
Von allen Menschen, die ich je traf, kenne ich keinen, der weniger hermacht und mehr kann als Mr. Hooke.

Erzähler:
Aus den Jahren 1672 – 80 und 1688 – 93 sind Mr. Hookes Tagebücher überliefert. Man erfährt viel über ihn, bisweilen mehr, als man möchte.

Hooke:
Donnerstag, 8. Mai. Zeigte Flamstead meinen Quadranten. Verfluchter eitler Gockel. Trank drei Liter reine Molke und erbrach mit Gänsefeder sehr viel Schleim, pisste klar wie Quellwasser, schlief gut.

Erzähler:
Beständig registriert Hooke seine körperliche Befindlichkeit und doktert an sich herum. Die Tagebücher lesen sich wie ein unendlicher Selbstversuch. Das Beobachten und Experimentieren ist für Mr. Hooke selbstverständlich – sei es eine Kopflaus, ein Mondkrater oder er selbst.

Hooke:
Freitag. Wieder Lärm in den Ohren. Trank Senna. Wirkte gut, fünfmal entleert. Kaufte zwei Brechmittel, eines von Whitchcot, eines von Child, 7 Shilling. Um 6 Uhr Hühnerbrühe und Milch mit Ei, kandierte Rosen und Dr. Goddards Mohnsirup. Schlecht geschlafen, monströs geträumt, Schweiß.

Erzähler:
Mr. Hooke hat nie geheiratet. Ein bis drei Stubenmädchen leben stets in seinem Haushalt. Sie gehen ihm auf die Nerven und leisten ihm Gesellschaft.

Hooke:
Mittwoch. Nell hat Schrank offengelassen beim Staubwischen. Ausgezankt.
Donnerstag. Nell schmollt.
Freitag. Entschieden, Nell loszuwerden. Unerträglich!
Montag. Mit Nell vertragen.

Erzähler:
Wie allgemein üblich bei Pfarrersköchinnen und Mägden von Gelehrten, stehen die Mädchen Mr. Hooke auch zur Verfügung, wenn die Natur ihr Recht fordert. Das scheint im Gehalt inbegriffen. Mit Akribie notiert Hooke jede Kopulation – bessergesagt: jeden seiner Orgasmen – ins Tagebuch. Er verwendet hierfür ein Zeichen –  i,  pisces – das Symbol für das Sternzeichen der Fische. Vielleicht wählt er es, weil die Fische mit der Venus assoziiert sind, vielleicht aber auch aus graphischen Gründen: Das Pisces-Zeichen besteht aus zwei gebogenen Linien, die in der Mitte mit einem Balken verbunden sind – mit ein wenig Phantasie ähnelt das durchaus einem Liebespaar.

Hooke:
28. Oktober. Mit Nell gespielt. Pisces. Tat mir im Kreuz weh.
2. Dezember. Schlecht geschlafen. Nell, Pisces, lag unten. Am Morgen Haare mit Schere geschnitten, Kopferkältung.
3. März. Zum ersten Mal Doll befühlt. Pisces Pisces! Sie nahm´s mit großem Gejammer. Gut geschlafen.
17. Mai. Mit Betty gebalgt. Träumte von Pisces.
19. Mai. Betty nackt. Pisces. Kopfschmerzen. Fleisch, Äpfel und Tabak in der Rose, Fleetstreet. Bekam mir nicht. Früh zu Bett. Pisces alleine. Betty schmollt. Schweiß und Ohrensausen.

Musik: Anonymous, "The saint turned sinner" dritte Strophe

Erzähler:
1672 nimmt Robert Hooke ein hübsches kleines Mädchen zu sich, Grace, seine 12jährige Nichte. Sie ist die Tochter von John Hooke, dem vielversprechenden großen Bruder, der noch immer Lebensmittelhändler auf der Isle of Wight ist und seit einer Weile auch Bürgermeister von Newport. John Hooke hat Probleme. Er kommt mit seinen Finanzen nicht zurecht, er steht im Ruf, mit falschen Gewichten zu wiegen, sein Bürgermeisteramt bewältigt er nur mit Mühe, und es scheint, als sei er auch nicht ganz richtig im Kopf: zu viel schwarze Galle, Melancholie. Grace geht es gut bei ihrem berühmten Onkel im Gresham College. Robert Hooke kümmert sich rührend um sie, soweit dies aus seinen mehr als lakonischen Tagebüchern zu entnehmen ist. Er unterrichtet Grace in der Algebra, er bestellt ihr einen Französischlehrer, immer wieder kauft er ihr Geschenke, ein Halskettchen, einen neuen Petticoat, brokatierte Bänder für ihr Haar. Wenn Grace einen Besuch auf der Isle of Wight machte und zurückkehrt, bereitet er eigenhändig ihr Zimmer vor, ordnet ihren Schrank, legt ein paar gelehrte Bücher für sie bereit. Ist sie krank, wacht er tagelang an ihrem Bett und notiert ins Tagebuch, recht untypisch für ihn: Miserere me deus. Im Juni 1676, Grace hat gerade ihren 16. Geburtstag gefeiert, wird sie seine Geliebte. Zwar reduziert Mr. Hooke auch in Grace‘ Fall die Liebe auf das Zeichen der Fische, doch man ahnt, dass sie sein Herz doch mehr beschäftigt als all die Stubenmädchen vor ihr.

Hooke:
Montag. Grace ausgegangen. Schlief schlecht.
Freitag. Grace wieder ausgegangen! Schrieb an Bruder, er soll sie entfernen.
Mittwoch. Schenkte Grace kleines Buch. Pisces Grace Pisces.
Mittwoch. Grace beim Ball der Lederhändler. Unerträglich!
Donnerstag. Langer Spaziergang mit Grace in Islington, bis sie müde wurde.
Dienstag. Fand Kellertür offen und Mr. Pettis bei Grace!
Mittwoch. Morgens Grace Pisces. Harry hat Grace gezeichnet. Französisch mit Grace gelesen. Mieder und Kleid für Grace, 40 shilling 6 pence.

Erzähler:
Im Februar 1678 nimmt John Hooke, der melancholische Bürgermeister von Newport, einen Strick und erhängt sich im Türstock. Dies entlockt seinem Bruder in London kein Miserere me deus. Er kümmert sich darum, dass die spärliche Hinterlassenschaft sichergestellt wird – bei Selbstmördern fällt das Vermögen an die Krone, wenn man nicht rechtzeitig Bittgesuche verfasst. Grace kehrt zurück auf die Isle of Wight, dazwischen ist sie immer wieder in London. Ihr Lebensweg ist nicht genau zu rekonstruieren. Es wird gemunkelt, dass sie eine Affaire hat mit Sir Robert Holmes, dem zwielichtigen Gouverneur der Isle of Wight, der einst seinen Lebensunterhalt als Pirat verdiente. Es wird auch gemunkelt, die hübsche Grace Hooke sei die Mutter von Holmes´ unehelicher Tochter. Auch in den 80er Jahre besucht sie immer wieder ihren Onkel in London, bekommt Halskettchen und Petticoats, wird gescholten, weil sie ausgeht, weil sie andere Männer trifft. 1687 stirbt sie, 26 Jahre alt. Von nun an wird Robert Hooke nie wieder Pisces in sein Tagebuch malen. Die späteren Aufzeichnungen sind im Telegrammstil, unfohe Notizen. Verdammte Hunde. Verdammte Schurken. Mr. Soundso ein Lügner. Mr. Soundso ein eitler Schuft. Robert Hooke wird ein böser alter Mann.

Musik: "Packington´s Pound"

Erzähler
1672 beauftragt die Royal Society den Kurator Hooke, einen Aufsatz über die Natur des Lichts zu rezensieren, den der junge Isaac Newton zur Beurteilung eingereicht hat. Newton vertritt darin unter anderem die Theorie, das Licht sei aus Materieteilchen gebildet. "Korpuskulartheorie" nennt dies die heutige Physik. Robert Hooke, der seinerseits eine Art Wellentheorie bevorzugt, verreißt die Arbeit mit Nachdruck – zumal er mit scharfem Blick erkennt, dass Newtons Hypothesen seinen eigenen Ausführungen in der Micrographia einiges zu verdanken haben, ohne dass dieses Buch oder sein Autor auch nur mit einem Wort erwähnt werden. Hooke ist sehr empfindlich, was vermutete Plagiate angeht – nicht ganz zu Unrecht. In einer Zeit, in der wissenschaftliche Entdeckungen sehr oft mündlich oder in Briefen besprochen werden, wechselt eine Idee schnell ihren Besitzer; Hooke hat das schon öfters erlebt. Seine Stellungnahme zu Newtons Aufsatz ist harsch und ein wenig herablassend, wenn auch höflich. Newton schnappt nachhaltig ein. Dennoch beginnen Hooke und Newton einen Briefwechsel, der sich über viele Jahre erstreckt. 1679 lässt sich Newton zum ersten Mal dazu herab anzuerkennen, dass seine wissenschaftlichen Hypothesen nicht aus dem Nichts geboren sind:

Zitator (Newton)
Descartes hat gute Arbeit geleistet. Auch Sie, Sir, haben einiges beigetragen, zumindest was die Farbentstehung bei dünnen Schichten angeht. Wenn ich nun weiter sehen kann als die anderen, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.

Erzähler
Mr. Hooke gefällt dieser Brief nicht. Kann Mr. Newton wirklich weiter sehen als alle anderen? Und wer sind die Riesen? Kepler wahrscheinlich, Galileo, vielleicht noch Descartes – mit Sicherheit nicht Robert Hooke. Newtons unklare Floskel, die Mr. Hooke 1679 so ärgert, schmückt heute die englische 2-Pfund-Münze: "Standing on the Shoulders of Giants." Es gibt keine Freundschaft zwischen Newton und Hooke. Doch erkennen sie beide das Talent des anderen. Beide interessieren sich für die Bewegung der Himmelskörper, das Phänomen der Gravitation. Schon um 1670 hat Hooke vermutet –

Hooke
– dass alle Körper denselben Gesetzen der Mechanik gehorchen. Diese Anschauung beruht auf drei Hypothesen. Erstens: Dass alle Himmelskörper eine Anziehungs- oder Gravitationskraft auf ihre Zentren ausüben, wodurch sie ihre eigenen Teile zu sich heranziehen und verhindern, dass sie davonfliegen. Zweitens: Dass ein Körper, wenn er in eine geradlinige Bewegung versetzt wird, sich weiterhin in einer geraden Linie bewegt, bis er durch eine andere Kraft beeinflusst wird, welche ihn ablenkt und diese Linie zu einem Kreis, einer Ellipse oder einer anderen Kurvenform biegt. Drittens: Dass diese Anziehungskräfte umso stärker auf einen anderen Körper wirken, desto näher zum Zentrum des ersten er sich befindet.

Erzähler
Es ist kein Wunder, dass Mr. Newton von seinem verhassten Kollegen nicht lassen kann. Auch Robert Hooke bringt es nicht fertig, Newton gegenüber zu schweigen – ungeachtet seines Misstrauens, das soeben neue Nahrung erhielt. Henry Oldenburg, der Sekretär der Royal Society, der die englischen Patentverhandlungen für den holländischen Mechaniker Christiaan Huygens führt, hat Mitte der 70er Jahre auf unschöne und intrigante Weise dafür gesorgt, dass Mr. Hooke die Erfindung der Pendeluhr abgesprochen wurde. Obwohl die gesamte Royal Society Zeuge war, dass Hooke vor Huygens diese Uhr konstruiert hat, und obwohl viele Gentlemen Henry Oldenburg bis zu seinem Lebensende nicht mehr grüßten, steht noch heute in jedem Lexikon, Christiaan Huygens sei der Erfinder der Pendeluhr. Diese Affaire, bei der sogar der König um Rat gefragt wurde und sich in gelangweiltes Schweigen hüllte, steigert Hookes Misstrauen ins Unermessliche. Immer wieder findet man Einträge wie diesen in seinem Tagebuch:

Hooke
Neue Flugmaschine erwähnt. Aber nicht verraten, wie sie geht!

Erzähler
Doch er unterhält sich nun einmal allzugerne über die Gravitation. Monat um Monat grübelt Hooke darüber nach, welchem mathematischen Gesetz die Anziehungskraft gehorchen könnte. Er hat eine Vermutung – doch es gelingt ihm nicht, sie in eine Formel zu fassen. 1679 schreibt er an Newton:

Hooke
Ich nehme an, dass die Gravitationskraft stets in einem umgekehrten quadratischen Verhältnis zu der Entfernung vom Zentrum eines Körpers steht.

Erzähler
1687 publiziert Isaac Newton seine Principia. Darin formuliert er das berühmte Gravitationsgesetz: "Die Anziehung zwischen zwei Körpern ist proportional dem Produkt ihrer Massen und invers proportional dem Quadrat ihrer Entfernung." Robert Hooke ist mit keinem Wort erwähnt.

Zitator (Aubrey)
Ich wünschte, Mr. Hooke hätte seine Gedanken damals ausführlicher formuliert und sich ein bisschen mehr Papier geleistet!

Erzähler
– seufzt John Aubrey. Es ist jedoch zu spät. Hooke kocht vor Wut. Die wenigsten Mitglieder der Royal Society bringen viel Sympathie für ihn auf; Newton ist der neue Star. Mr. Aubrey allerdings hält Hooke die Treue:

Zitator (Aubrey)
Und in dem selben Buch hat Mr. Newton noch mehr Theorien und Experimente veröffentlicht, die alle von Mr. Hooke stammten, und nie zugegeben, woher er sie hat!

Erzähler
John Aubrey ist zwar Mitglied der Royal Society, aber kein Naturwissenschaftler. Er stellt Horoskope, erforscht die Druidenkreise von Stonehenge und schreibt Biographien – seine "kurzen Lebensläufe", denen auch die Zitate über Hooke entnommen sind, gelten als Klassiker der englischen Literatur. Mr. Aubrey bewundert Robert Hooke. Robert Hooke nimmt ihn nicht für voll.

Hooke:
7. September. Aubrey kindisch und versoffen.

Erzähler:
Die Feindschaft mit Newton, die Angelegenheit mit der Pendeluhr, der Tod von Grace – in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens findet Robert Hooke seine gute Laune nicht mehr wieder. Er arbeitet noch immer wie besessen, kümmert sich um die Royal Society und um alles sonstige, doch ist er verbittert, mürrisch, paranoid, ein alter Mann, der die Sache leid ist. Er ist herzkrank, und als es schließlich ans Sterben geht, tut er sich sehr schwer damit. Richard Waller schreibt –

Zitator (Waller)
Er lebte lange ein sterbendes Leben. Über ein Jahr war er sehr krank und, wie man sagen könnte, meist bettlägrig, obschon er selten wirklich zu Bett ging, sondern die Kleider anbehielt und, wenn er zu schwach wurde, sich so auf das Bett hinlegte, was sehr unbequem war. Und dann nahmen seine Krankheiten immer weiter zu, Atemnot, ein Anschwellen des Körpers, vor allem der Beine, bis er zuletzt daran starb, und man sagte, als er tot war, sah sein Körper ganz schwarz aus, zum Äußersten abgemagert, alle Kräfte ganz verbraucht. Mr. Hooke starb am dritten März 1703. Er war 67 Jahre, 7 Monate und 13 Tage alt, und er wurde mit Anstand und Würden in St. Hellen in London beigesetzt.

Erzähler:
Hookes Grab ist nicht erhalten. Ein halbes Jahr nach seinem Tod wird Isaac Newton Präsident der Royal Society. Eine neue Zeit bricht an.

Musik: "Packington´s Pound"



Und hier gibt es Robert Hookes Notizbücher!

© 2004 by Christine Wunnicke