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"Gott Lullo selbst, unsterblich und erhaben"

Die Lulliade des Ranieri de' Calzabigi


Musikfeature, 55 min, WDR 1993

 

Ranieri de' Calzabigi ist in die Musikgeschichte eingegangen als Librettist und Mitstreiter des Opernreformers Christoph Willibald Gluck.1741 in Livorno geboren, führte er ein unruhiges, nicht ganz unbescholtenes Leben, das in manchen Zügen dem seines Geschäftsfreundes Casanova ähnelt, mit dem er in Paris ein zwielichtiges Lotterieunternehmen gründete.
Die Lulliade wurde erst 1977 zum ersten Mal veröffentlicht. Das italienische Manuskript, 1789 fertiggestellt, liegt heute in der Nationalbibliothek von Florenz. Die Lulliade, ein "heroisch-komisches Gedicht", so Calzabigis Gattungsbezeichnung, ist inspiriert von der so genannten "querelle des bouffons", die Mitte des 18. Jh. in Paris die Gemüter erhitzte. Eine italienische Komödiententruppe, die mit Pergolesis "serva padrona" in Paris gastierte, brachte den musikalischen Nationalstolz der Franzosen so auf, dass ein wahrer Bürgerkrieg begann. Calzabigi, der damals in Paris lebte, nahm den Krieg der "Lulliisten" gegen die "Bouffonisten" zum Anlass, den musikalischen Starrsinn der stolzen französischen Nation zu verspotten. Gekleidet ins Gewand eines Heldenepos aus der antiken Mythologie – Christine Wunnicke hat die Verse liebevoll ins Deutsche gebracht – erzählt Calzabigi die Geschichte des göttlichen Jean Baptiste Lully, der einst ein unscheinbarer italienischer Knabe namens Bista Lullo war; wie er die französische Musik erschuf; wie man sein Andenken ehrte; und mit welchen Waffen man schließlich gegen die italienischen Musiker zu Felde zog.










Pariser Kastratenfolter
ein düsteres Kapitel aus dem französisch-italienischen Opernkrieg

Aus: Ranieri de Calzabigi, "La Lulliade", 1789
aus dem Italienischen von Christine Wunnicke


Der Krieg bereits in vollem Gange ist,
die Säbel rasselten, ein jeder schmollte,
als eines Tags ein kleiner Sopranist,
der aus Neapel kam, nach England wollte,
und keine Ahnung hat vom Glaubenszwist,
Paris erreichte, wo der Donner grollte.
   Die Neugier gab ihm einen schlechten Wink:
   in die Oper lief das arme Ding.


An der Kasse kauft er ein Billet,
und während andre drängeln, stoßen, schlagen,
geht er allein und sittsam ins Parkett;
so gut sich die Franzosen nicht betragen.
Ein braver Junge ist's, zierlich und nett,
den Grund dafür weiß ich Euch nicht zu sagen:
   macht seine Jugend, oder macht das Messer
   die Wangen glatter und die Seele besser?


Sofort erkennt man seine fremde Rasse:
die Lulliisten nehmen ihm aufs Korn.
Man fürchtet, daß er es nicht unterlasse,
hier mitzusingen. Und schon kocht der Zorn.
Bald tobt und wütet diese wilde Masse,
man schubst ihn hinten, und man schubst ihn vorn.
   Vergebens setzt der Knabe sich zur Wehr,
   nach da, nach dort stößt man ihn hin und her.


Der Unhold, welcher ihn am meisten pufft,
ist noch zu schlimmerem sodann bereit:
den armen Knaben packt der üble Schuft
mit harter Hand an seiner Männlichkeit.
Er drückt fest zu - und fühlt vor allem Luft;
er wundert sich, bis er dann plötzlich schreit.
   Wie ein Esel brüllt er seinen Fluch,
   er kreischt entzückt: "Eunuch, Eunuch, Eunuch!"


So wird der Knabe ihnen noch verhaßter.
Sie greifen ihn und fesseln ihn sodann
unter den Logen an einen Pilaster,
rechts vom Orchester binden sie ihn an.
Er gleicht einer Figur aus Alabaster,
der arme Junge, der nichts machen kann.
   Die Lulliisten schreien ganz erhitzt
   nach jenen Teilen, die er nicht besitzt.


Nun wird der Vorhang endlich angehoben,
mit rauhen Klängen werden wir beglückt
(das Singen gleicht dem Schreien und dem Toben
des Bösewichts, den man zur Hölle schickt.)
Und aus den Logen, von der Bühne oben,
so manches Weibsbild nach dem Knaben blickt:
   sie mustern den geschund'nen Liebesgott,
   und stumme Gier mischt sich mit bösem Spott.


Sie gleichen einem Pfaffen, der Novizen
in stiller Zelle mit der Peitsche züchtigt;
die Knabenschreie können ihn erhitzen
(die Jesuiten sind dafür berüchtigt).
An jenem Körperteil, worauf wir sitzen,
der brave Pater gründlich sich ertüchtigt.
   Daß auch die Haut ihm schön gerötet sei!
   Ist's Strafe? Oder ist es Buhlerei?





© 2004 by Christine Wunnicke